20150311

[quoth] ursula græfe: die trauer der teeschalen

Das nachstehende [quoth] stellt mein jährliches Memento an die folgenreichen Ereignisse in der Tōhoku-Region am 11/03/2011 dar.
Es handelt sich dieses Mal um einen Auszug aus Die Trauer der Teeschalen - Vom Leben und Sterben der Dinge in der japanischen Literatur, einem Essay von Ursula Græfe (dem derart geneigten Leser sicher in erster Linie als Übersetzerin der Werke von Haruki Murakami geläufig), in dem sie ihre in Zusammenarbeit mit ihrer Frankfurter Kollegin Kimiko Nakayama-Ziegler entwickelten Gedanken zum japanischen Konzept des 物の哀れ (mono no aware) in ausladender Weise äußert. Dieser von Motoori Norinaga im 18. Jahrhundert geprägte Begriff bezeichnet ein ästhetisches Prinzip, "demzufolge die anrührende, schlichte, ja beschädigte Schönheit einer Sache gerade durch ihre Unvollkommenheit starke Empathie bei ihrem Betrachter hervorruft. Durch sie empfinde er die Vergänglichkeit allen Seins umso stärker."[1]
Eine unserer belangreicheren Entdeckungen, oder besser gesagt Hypothesen, ist jedoch etwas, das wir als die "atmosphärisch andere" Darstellung von Materie bezeichnen, ein Phänomen, das bei der Übertragung ins Deutsche mitunter gewisse Schwierigkeiten aufwirft. [....] Unsere Überlegungen stützen sich nicht allein auf die Beobachtung, daß Alltagsgegenstände in der japanischen Literatur über ein stärkeres Eigenleben oder vielleicht sogar mehr Individualität verfügen, als sie literarischen Requisiten, Motiven, Symbolen oder Metaphern in der "westlichen" Erzählliteratur zu eigen sind. Am deutlichsten wird der Unterschied wahrscheinlich an der Beziehung der Charaktere zu den Gegenständen, die zwar stets funktional und selten oder nie ideell ist, aber dennoch persönlicher, gleichberechtigter, ja, man möchte sagen, intimer erscheint. Sie ist von einer besonderen Wertschätzung geprägt, in der sich jedoch weniger eine spirituelle als eine emotionale Qualität offenbart. [....]

BATTERIEN IM MONDSCHEIN

Zu guter Letzt wollen wir noch eine etwas humorvollere Schilderung der von ihrer Arbeit erschöpften Materie präsentieren. Auch die bereits erwähnte Autorin Hiromi Kawakami (geb. 1958) beschwört in ihrem Roman Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß die japanische Achtung vor dem Eigenleben der Gegenstände. Im Kapitel "Batterien im Mondschein" besucht die Heldin Tsukiko, die sich mit beinahe vierzig Jahren in ihren dreißig Jahre älteren ehemaligen Japanischlehrer verliebt hat, diesen alten Herrn, ihren Sensei, zum ersten Mal in seinem Haus. Und er zeigt ihr, statt ihrer Briefmarkensammlung, eine ganz andere Sammlung:

"Ich kann eben nichts wegwerfen" [, sagte er]. Wieder ging er ins Nebenzimmer. Diesmal kehrte er mit mehreren kleinen Plastiktüten zurück. Er knotete eine davon auf, und eine Menge mit schwarzem Filzstift beschrifteter Batterien kam zum Vorschein: "Rasierer", "Wanduhr", "Radio", "Taschenlampe". Er griff eine A2-Batterie heraus. [....] "Diese gehörte zu meinem ersten Kassettenrekorder." [....] Schließlich könne man Batterien, die einem so brav gedient hätten, nicht einfach wegwerfen. Das wäre herzlos. Es sei nicht anständig, sie, die bis dahin Licht und Töne erzeugt hätten, in den Müll zu schmeißen, nur weil sie leer seien. "Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Tsukiko?" Der Sensei sah mir ins Gesicht. Eigentlich hatte ich dazu keine Meinung, rang mir aber zum fünfzehnten oder sechzehnten Mal an diesem Abend ein Ja ab. Ich strich über eine der vielen unterschiedlichen Batterien. Sie war rostig und fühlte sich feucht an. An der Seite stand "Casiorechner". [....] Später am Abend kramt der alte Lehrer einen Batterieprüfer hervor. Nun überprüfte er jede einzelne seiner zahllosen Batterien. Bei den meisten rührte sich die Nadel nicht, wenn er die Klemme ansetzte. Sooft die Nadel ausnahmsweise doch einmal zuckte, stieß er ein leises "Ah" hervor. "Es ist noch Leben drin", sagte ich dann, und er nickte kurz. [....] Eine Weile betrachteten wir schweigend den Mond."[3]

Der humoristische Ton, den Kawakami in dieser Szene anschlägt, täuscht nicht darüber hinweg, daß der Respekt, den der alte Lehrer den Dingen entgegenbringt, die viel jüngere Frau trotz ihrer äußerlichen Genervtheit berührt. Die Autorin läßt in diesem Anfangskapitel, in dem der alte traditionell denkende Mann und die junge Frau, die ein modernes Single-Leben führt, einander näher kommen, bewußt Bilder des Tradtionellen und Modernen (Mond und Batterien) aufeinandertreffen.[4] Die Gewohnheit des Lehrers, unbrauchbar gewordene Dinge wie dienstbare Gefährten zu behandeln und ihnen über ihre Funktionsfähigkeit hinaus einen Platz in seinem Haus einzuräumen, versinnbildlicht hier offenbar einen Gemütszustand, der der jüngeren Tsukiko nicht sofort einsichtig ist.


1 Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler: Die Trauer der Teeschalen - Vom Leben und Sterben in der japanischen Literatur. Veröffentlicht am 06/09/2009 (sowie in Ausgabe 9.1 Ethik und Ästhetik des Online-Magazins Schau ins Blau).
2 Bei der für dieses [quoth] gewählten Abbildung handelt es sich um eine Szene aus Shaking Tokyo des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho.
3 Hiromi Kawakami: Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß, München 2008, S. 11.
4 In diesem Zusammenhang sei mir die kurze Randnotiz gestattet, daß ich mir beim Abschreiben des oben stehenden [quoth] bewußt [sic] das Recht herausgenommen und in entsprechenden Worten den Einsatz des altehrwürdigen ß gewählt habe.

2 comments:

Matthias said...

Bezüglich mono no aware bleibt meinerseits nur hinzufügen, daß die Töpferkunst des Kintsugi (auch als Kintsukuroi bekannt) den Wert einer zerbrochenen Keramik zelebriert, indem sie mit aufwendig gearbeiteten, aber simpel erscheinenden Goldfugen repariert wird. (Ich habe derzeit eine zerbrochene Reisschale im Schrank liegen und möchte sie nun endlich mal einer solchen Reparatur zuführen. In Deutschland findet sich allerdings kaum ein in dieser Kunst geübter Töpfer.)

Jøta said...

Auch ich habe noch ein kleines Sake- beziehungsweise Tee-Becherchen daheim, daß ich in einem Augenblick schmaler Achtsamkeit zerschellen ließ. Die Fragmente werde ich wohl fortan als eine Art Memento betrachten und sie als solches belassen. Ist ja auch nicht so, als ob es mir an Trinkgefäßen ermangeln würde. Dank dir dennoch für deinen erhellenden Zusatz. Die von dir angesprochene Reparaturmethode war mir bislang unbekannt.