caput(t): defragmentierung des gehirns

[la] Guillotiné[e] dit: ma tête, ma tête, ma tête ....
Notizen und Zitate zur körperlichen und geistigen Selbstreflektion, ein Spiegel, der enthüllen und verdeutlichen soll, wie ich mein eigenes Ich empfinde und auffasse. Es sind Aufzeichnungen zu meiner fahrlässig verschuldeten Degeneration und dem, persönlich wahrgenommenen, Verfall meines Gehirns. Zu meinem Bedürfnis, mich - wie Kalypso - zu verhüllen, bildlich gesprochen, unbeobachtet zu sein, mich der allgemeinen Aufmerksamkeit zu entziehen.
die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes[6]
.... hab' er entrissen dem Hals das Haupt.[1]
Friederike Mayröcker: Gärten, Schnäbel, ein Mirakel, ein Monolog, ein Hœrspiel.
"Schlafe auf Nervenzettel", sagt die Dichterin, "ganz dünner durchsichtiger durchlöcherter Schlaf." - "Mein Gang ist unsicher, ich werde schwächer ... es ist zu spät, der Sommer verhaucht." - "Ich habe keine Inspiration",[2] sage ich zu meinem Arzt". Doch die Ärztin tröstet. "Schreiben", sagt sie "werden Sie länger können als lesen." In ihrem jüngsten Hörspiel flaniert Friederike Mayröcker, geboren 1924, durch einen Park poetischer Assoziationen. Vergangene Sommertage huschen vorbei, geradezu heiter reflektiert die Dichterin ihre physische Existenz.
Hieronymus Bosch: Das Steinschneiden
Hinter dem Begriff "Steinschneiden", das im Mittelalter praktiziert wurde, verbarg sich ein Gaunerstück: Fahrende Quacksalber (im 16. Jahrhundert von Niederländisch kwakzalver "prahlerischer Salbenverkäufer" entlehnt) boten reichen Leuten an, ihnen gegen ein hohes Entgelt "den Stein" aus dem Kopf zu operieren und sie damit von Dummheit und Narretei zu befreien. Wie das vonstattenging – zumal ohne Narkose –, ist nicht überliefert.
Unica Zürn: Das Haus der Krankheiten
"Ich rate Ihnen, heute Nacht im Kabinett der Sonnengeflechte zu schlafen" sagte Dr. Mortimer. "Dies ist die goldene Mitte des Leibes, wo alles ruht, außer im Zustand der Liebe und des Bösen und für Zustände dieser Art sind Sie jetzt zu schwach, so daß Sie also ohne Störung in diesem Kabinett sein werden. Soll ich Sie begleiten?" Ich schüttelte den Kopf, hielt meinen Arm hin und ließ mir von ihm eine Schlafinjektion machen. An der Tür sah mich Dr. Mortimer starr und feierlich an, er reckte sich hoch und glich einen Augenblick lang einem Menschen, der mir sehr teuer gewesen war und um dessen Vergessen ich mich bemühte. "Er, [der Meisterschütze], hat von nun an Ihre Augen in seiner Macht. Die Richtung, in die Sie nun immerzu sehen müssen, das ist der Ort, wo er sich selbst befindet." Ich spürte, wie meine Schwäche stärker wurde und hielt mich an Dr. Mortimer fest. "Es ist lebensgefährlich", sagte er diesmal ohne Pathos, sondern in so heiterem Ton, als wollte er eigentlich sagen: Der Frühling scheint kommen zu wollen. "Seit ich in diesem Haus wohne, ist alles lebensgefährlich geworden", lächelte ich. "Gute Nacht, Doktor, passen Sie gut auf die Feinde auf."
Mark Twain: Der geheimnisvolle Fremde[3]
"Der Mensch ist aus Erde geschaffen – ich habe zugesehen, als er gemacht wurde. – Der Mensch ist ein Museum von Krankheiten, ein Sammelplatz von Unreinheiten; heute kommt er und ist morgen wieder fort; er beginnt als Erde und scheidet als Gestank."
[S]o ist Prudencio Aguilar - der einzige Mensch, mit dem der selbst fast schon verschimmelte und mit der Kastanie verwachsene José Arcadio am Ende seines Lebens noch Kontakt hat - "von der Hinfälligkeit des Todes fast ganz zerstäubt". Im Blick auf die Vielfalt und Verwandlungsfähigkeit grotesker Körper, die García Márquez' Roman aufbietet, markiert der Staub die äußerste Reduktion, eine Grenzsituation zwischen Leben und Tod, Körper und Geist, die extremste Möglichkeit, die der Körper erreichen kann, bevor seine Textualität (in der Linguistik die Eigenschaft, ein Text zu sein) zum Vorschein kommt.[*]
Roberto Calasso: Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia
Keine Frau war je so einsam wie Kalypso. Vom Eingang ihrer Grotte blickte sie auf die veilchenfarbenen Wellen und wußte, daß die anderen Götter sie nicht suchten. Hinter sich hörte sie das brodelnde Gurgeln der Tiefe, das in vier Richtungen Wasser an die Oberfläche spie. Sie war eine göttliche Wirtin, doch die Zeit verweigerte ihr die Gäste. Warum lag das Meer um sie herum öde da, und warum stieg von der Erde kein Opferrauch empor? Die Entfernung, die zwischen Kalypso und der Welt lag, maß man nicht nur am riesigen Rücken des Wassers, sondern vor allem nach der Zeit. Wie ihr Vater Atlas, "der die Tiefen des Meeres überall kennt" und über die großen Säulen wacht, die die Erde und den Himmel auseinanderhalten, lebte auch Kalypso an einem kosmischen Angelpunkt: Ogygia war eine Urinsel und mit keiner anderen Insel zu verwechseln, so wie das Wasser des Styx, das jedweden Stoff auflöst und sogar die Olympier in Schrecken versetzt, mit keinem anderen Wasser verwechselt werden kann. Doch niemand kümmerte sich um die beiden. Sie waren aus einem Zeitalter, dem gestürzten Reich des Kronos, übriggeblieben. Nun saßen die Götter auf einem Berg und glänzten im Licht.
Kalypso bedeutet Verhüllerin[4]. Ihre große Leidenschaft war das Verhüllen, etwas in einen Schleier einwickeln, der denen glich, die ihr den Kopf bisweilen einhüllten. Doch sie hatte nichts, was sie verhüllen konnte, außer der unablässigen Vermischung der himmlischen und der irdischen Wasser unter ihrer Grotte, die unter dumpfem Dröhnen stattfand, das sie vom Dröhnen des Meeres vor ihr gut unterscheiden konnte.
Oscar Wilde: The Sphinx Without A Secret
'Lady Alroy was simply a woman with a mania for mystery. She took these rooms for the pleasure of going there with her veil down, and imagining she was a heroine. She had a passion for secrecy, but she herself was merely a Sphinx without a secret.'
Jorge Luis Borges, Interview with Richard Burgin, 1967.
I try to be as undistinguished and invisible as possible. And then, perhaps, the one way to be undistinguished is to dress with a certain care, no? What I mean to say is that when I was a young man I thought that by being careless people wouldn't notice me. But on the contrary. They noticed that I never had my hair cut, that I rarely shaved, no? [confer: you look like someone who has been dragged through a hedge backwards]
Reflektionen zur Trope und Metaphorik des Spiegels
Jorge Luis Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius.
Vom fernen Ende des Ganges belauerte uns der Spiegel. Wir entdeckten (in tiefer Nacht ist diese Entdeckung unvermeidlich), daß Spiegel etwas Monströses haben. Daraufhin erinnerte sich Bioy Casares, einer der Häresiarchen von Uqbar habe erklärt, die Spiegel und die Paarung seien abscheulich, weil sie die Zahl der Menschen vervielfachen.
James Woodall: Borges - A Life.
`I was always afraid of mirrors,' Borges said in 1971. `I had three large mirrors in my room when I was a boy and I felt very acutely afraid of them, because I saw myself in the dim light -- I saw myself thrice over, and I was very afraid of the thought that perhaps the three shapes would begin moving by themselves ... I have always been afraid ... of mahogany, of crystals [beware of Seath!], even of limpid water.'
Jorge Luis Borges: El Espejo de los Enigmas.
Essay on 1 Corinthians 13:12.
For now we see throughly a glass, darkly.

The third is from a letter written in December. 'Everything is a symbol, even the most piercing pain. We are dreamers who shout in our sleep. We do not know whether the things afflicting us are the [secret] beginning of our ulterior happiness or not. We now see, St Paul maintains, per speculum in aenigmate, literally: "in an enigma by means of a mirror" and we shall not see in any other way until the coming of the One who is all in flames and who must teach us all things."
The fourth is from May 1904. 'Per speculum in aenigmate, says St Paul. We see everything backwards. When we believe we give, we receive, etc. Then (a [beloved], anguished soul tells me) we are in Heaven and God suffers on earth.'
.... und wie unordentlich die Bücher hier alle rumstehen.
Detektiv Conan: Der verschwundene Bibliothekar.
Das Gehirn sei wie ein Bücherregal.
NDR Talk Show vom 03/06/2015 (48m40s), in der unter anderem die ehrwürdige Hœrspiel-Produzentin Heikedine Körting zu Gast war.
Barbara: Herr Doktor Ehlers im Film, der erklärt eigentlich ganz gut, wie was im Gehirn passiert. Daß man sich das Gehirn als ein Bücherregal vorstellen muß. Er erklärt das dem kleinen Mädchen Tilda. Und es fallen im Laufe dieser Krankheit immer mehr Bücher um, und jedes Buch, das umfällt, da vergißt man den Inhalt sozusagen, der in diesem Buch ist. Und am Ende fallen eben immer mehr Bücher um und kommen in der Regel auch nicht wieder zurück.
Til: Aber manchmal stellt sich auch ein Buch, wie er sagt, wieder auf, und dann fallen wieder andere um.
Honig im Kopf, Szene:
Das Gehirn voller Erinnerungen sei wie ein Bücherregal. Wenn der Mensch erkranke, ist das, als fielen einzelne Bücher im Regal um oder verschwänden ganz, so dass Lücken entstehen. Bei fortschreitender Erkrankung würde es immer größere Lücken geben, bis schließlich alle Bücher aus dem Regal fehlten.
Sarah Kane: Psychosis 4.48
Ich werde ertrinken in Dysphorie
in dem kalten schwarzen[5] Teich der ich bin
in diesem Schacht meines immateriellen Geistes.
Aufzeichnungen zur Trope und Metaphorik der Desertifikation
Friedrich Nietzsche: Dionysus-Dithyramben
Die Wüste wächst: wehe [der, die] Wüsten birgt ....
1 Publius Ovidius Naso: Metamorphoseon Libri.
Übersetzung von Johann Heinrich Voß.
Via: Ovids Metamorphosen, gelesen von Rolf Boysen. CD 3, Titel 12. Hœrverlag, 2004.

2 Inspiration, aus dem Lateinischen inspirare "einhauchen, hineinblasen".
3 Poldis Hœrspielseite, Rezension zu Mark Twain: Der geheimnisvolle Fremde, 21/09/2014.
4 Καλυψώ (Kalypsō); vgl. gr. καλύπτειν (kalýptein) "verhüllen, bedecken"; cf. Apokalypse (gr. ἀποκάλυψις, "Offenbarung, Aufdeckung, Enthüllung", vom griechischen ἀπό (apo, "weg") und κάλυψις "Verhüllung, Verbergen" bzw. καλύπτω (kaluptō, "bedecken")
5 Melancholie, aus dem Griechischen μελαγ-χολία "Schwarzgalligkeit"
6 Genau: Sehen Sie nur die P... an, fuhr er fort, wenn sie die Daphne spielt, und sich, verfolgt vom Apoll, nach ihm umsieht; die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich, als ob sie brechen wollte, wie eine Najade aus der Schule Bernins. In: Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater, Kapitel 1. Via: Byung-Chul Han, Abwesen, S. 81.
7 Entfacht durch Recherchen zum Manuskript des Melquíades:
In: Menschengestalten: zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman. Beitrag von Volker Roloff: Traumdiskurs und Körper. Beispiele der lateinamerikanischen Literatur. 279.

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