praesens: weile, denn die zeit, sie flieht

Byung-Chul Han: Duft der Zeit
Die heutige Zeitkrise hängt nicht zuletzt mit der Verabsolutierung der vita activa zusammen. Sie führt zu einem Imperativ der Arbeit, der den Menschen zu einem arbeitenden Tier (animal laborans) degradiert. Die Hyperaktivität des Alltags nimmt dem menschlichen Leben jegliche Kraft zum Verweilen und zur Kontemplation. Dadurch wird die Erfahrung erfüllter Zeit unmöglich. Notwendig für die Überwindung der heutigen Zeitkrise sind die Revitalisierung der vita contemplativa und das Wiedererlernen der Kunst des Verweilens.
Herberge der Harmonie: Der Tawaraya Ryokan.
Dokumentation von Gert Anhalt.

Besuch in der Werkstatt eines Töpfer-Ehepaars Horioka:
Wir leben in einer hektischen Zeit. Essen und Trinken sind die Momente, in denen wir uns erholen und entspannen wollen. Die Rolle des Gefäßes dabei ist, diese kostbaren Momente des Genuß zu bereichern.
Pierre Bourdieu: Sur la Télévision, via: α.
Über das Fernsehen, SV 2054, 38f.

Zu Beginn sagte ich, daß das Fernsehen die Artikulation von Gedanken nicht gerade begünstigt. Ich stellte eine Verbindung zwischen Geschwindigkeit und Denken her, und zwar eine negative. Das ist ein alter Topos des philosophischen Diskurses: Schon Platon unterschied zwischen dem Philosophen, der Zeit hat, und den Leuten auf der agora, auf dem öffentlichen Platz, die es eilig haben. Er behauptet in etwa, daß man nicht denken kann, wenn man es eilig hat. Das ist eine eindeutig aristokratische Einstellung. Es ist der Gesichtspunkt des Privilegierten, der Zeit hat und sein Privileg nicht allzu sehr in Frage stellt. Aber hier ist nicht der Ort, diesen Aspekt zu diskutieren; fest steht jedenfalls, daß es eine Verbindung zwischen Denken und Zeit gibt. Und eines der Hauptprobleme des Fernsehens ist die Frage der Beziehungen zwischen Denken und Geschwindigkeit. Kann man denken, wenn man es eilig hat? Wenn das Fernsehen immer nur Denkern das Wort erteilt, die als besonders reaktionsschnell gelten, muß es sich mit fast-thinkers abfinden, Denkern, die, wie ein gewisser Westernheld, schneller schießen als ihr Schatten ...
Yaniv Tempelman: Zeit im Spielfilm
Bachtins Chronotopos & Mamoru Oshiis Angel's Egg

Ein weiteres wichtiges Roman-Genre, in welchem die Raum-Zeit-Beziehungen gut veranschaulicht werden und konstitutiv für das Genre sind, ist der im England gegen Ende des 18. Jahrhunderts auftauchende gothische Roman. Hier vollziehen sich die Ereignisse vornehmlich im einem Schloss und seiner Umgebung. Das Schloss selber ist nun angefüllt mit Zeit, der Schlosszeit. Sie macht die historische Vergangenheit in den verschiedenen Ausstattungen des Schlosses sichtbar: In den Bauten, den Gemälden, im Mobiliar und den Waffen. Weiter füllen Legenden und Überlieferungen das Schloss mit Leben (Bachtin b1989: 195). Diese Schlosszeit wurde dann später in der fantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts übernommen und spielt auch heute noch sowohl in der Literatur, als auch im Film eine wichtige Rolle bei der Erzeugung des Unheimlichen.

Auch in Angel's Egg sind Traum und Wirklichkeit eng miteinander verbunden. Die Handlung spielt sich vornehmlich an Orten ab, in denen die Zeit sich materialisiert und somit sichtbar wird. So schläft das Mädchen zum Beispiel gleich unter den Überresten einer Sonnenuhr. Die menschenleere Stadt hat viele Ruinen und weist eine Architektur aus der Jahrhundertwende auf. Die Fischer jagen Quastenflosser, ein heute noch lebendes Fossil unter den Fischarten. In der Arche befinden sich viele Versteinerungen. An diesen verschiedenen Orten trifft man vornehmlich auf der von Bachtin genannten Schlosszeit. Auch wenn der Ort der Handlung kein Schloss ist, sind die Raum-und Zeitverhältnisse hier ähnlich: Sämtliche Orte und Gegenstände sind Zeugnisse einer längst vergangenen Epoche, längst vergangener Geschehnisse.

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