20180311

ibidem 2021

Die Erde ist kein totes, lebloses, stummes Wesen, sondern ein beredtes Lebewesen, ein lebendiger Organismus. Selbst der Stein lebt. Cézanne, der besessen war von der Montagne Sainte-Victoire, wusste vom Geheimnis und von einer besonderen Lebendigkeit und Kraft der Felsen. Bereits Laotse lehrt: Die Welt ist wie eine geheimnisvolle Schale. Man kann sie nicht fassen. Wer sie begreifen will, wird sie verlieren.

Die Erde als eine geheimnisvolle Schale ist zerbrechlich. Wir sind heute dabei, sie brutal auszubeuten, sie auf Verschleiß zu fahren und dadurch vollständig zu zerstören. Von der Erde geht der Imperativ aus, sie zu schonen, das heißt sie schön zu behandeln. Das Schonen ist etymologisch mit dem Schönen verwandt. Das Schöne verpflichtet, ja gebietet uns, es zu schonen. Es gilt, mit dem Schönen schonend umzugehen. Es ist eine dringende Aufgabe, eine Verpflichtung der Menschheit, die Erde zu schonen, denn sie ist schön, ja herrlich.

Schonen verlangt nach Loben. Die folgenden Zeilen sind Hymnen, Lobgesänge an die Erde. Wie ein schönes Lied der Erde sollte dieses Lob der Erde erklingen. Für manche aber sollte es sich lesen wie eine Hiobsbotschaft, angesichts heftiger Naturkatastrophen, die uns heute heimsuchen. Sie sind die zornige Antwort der Erde auf die menschliche Rücksichtslosigkeit und Gewalt. Wir haben jede Ehrfurcht vor der Erde verloren. Wir sehen und hören sie nicht mehr.
Auszug aus Byung-Chul Han's Lob der Erde anläßlich des siebten (achten) Jahrestages des Tōhoku-Erdbebens und seiner vielfältig ausgeprägten Nachwehen.

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