20131229

[quoth] roberto calasso: die hochzeit von kadmos und harmonia (it1476, p.393 cont'd)

Keine Frau war je so einsam wie Kalypso. Vom Eingang ihrer Grotte blickte sie auf die veilchenfarbenen Wellen und wußte, daß die anderen Götter sie nicht suchten. Hinter sich hörte sie das brodelnde Gurgeln der Tiefe, das in vier Richtungen Wasser an die Oberfläche spie. Sie war eine göttliche Wirtin, doch die Zeit verweigerte ihr die Gäste. Warum lag das Meer um sie herum öde da, und warum stieg von der Erde kein Opferrauch empor? Die Entfernung, die zwischen Kalypso und der Welt lag, maß man nicht nur am riesigen Rücken des Wassers, sondern vor allem nach der Zeit. Wie ihr Vater Atlas, "der die Tiefen des Meeres überall kennt" und über die großen Säulen wacht, die die Erde und den Himmel auseinanderhalten, lebte auch Kalypso an einem kosmischen Angelpunkt: Ogygia war eine Urinsel und mit keiner anderen Insel zu verwechseln, so wie das Wasser des Styx, das jedweden Stoff auflöst und sogar die Olympier in Schrecken versetzt, mit keinem anderen Wasser verwechselt werden kann. Doch niemand kümmerte sich um die beiden. Sie waren aus einem Zeitalter, dem gestürzten Reich des Kronos, übriggeblieben. Nun saßen die Götter auf einem Berg und glänzten im Licht.

Kalypso bedeutet Verhüllerin[1]. Ihre große Leidenschaft war das Verhüllen, etwas in einen Schleier einwickeln, der denen glich, die ihr den Kopf bisweilen einhüllten. Doch sie hatte nichts, was sie verhüllen konnte, außer der unablässigen Vermischung der himmlischen und der irdischen Wasser unter ihrer Grotte, die unter dumpfem Dröhnen stattfand, das sie vom Dröhnen des Meeres vor ihr gut unterscheiden konnte. [...]
Odysseus verbrachte sieben Jahre mit Kalypso; diese Zeit reichte dazu aus, daß viele seiner Untertanen ihn verschollen glaubten. Es waren die Jahre, in denen die Zeit ihn an einen wunderbaren abgeschlossenen Ort zurückgesogen hatte, die ein schwimmendes Grab war. Wenn er auf die Erde blickte, sah er Veilchen und Selleriestauden, mit denen man die Toten umgibt. Richtete er den Blick auf, sah er Erlen, Zypressen, Schwarzpappeln, Weiden: Bäume der Toten. Und alles war von urweltlicher Schönheit, die sogar die Götter sprachlos machte. [...]

Während vieler Tage, am Strand hockend, hatte Odysseus Kalypso vom trojanischen Krieg erzählt. Mit einem Stock zeichnete er die Heerlager und Stellungen in den Sand. Jedesmal veränderte er die Erzählung—oder die Art, wie er erzählte. Kalypso saß neben ihm, still, konzentriert. Dann verwischte eine stärkere Welle die Zeichnungen im Sand. Einmal sagte Kalypso zu ihm: "Sieh nur, dies vollbringt das Meer, und dem Meere willst du dich anvertrauen?" Nach jenem Tag kehrte Odysseus nicht mehr mit ihr an den Strand zurück. Jetzt saß er allein, auf einem Felsblock, der weit ins Meer ragte, und weinte. Bei Sonnenuntergang kehrte er in die Grotte zurück, als wenn sein Arbeitstag vorbei wäre. Und jeden Abend wiederholte sich die gleiche Szene. Von seinem goldenen Sitz streckte Odysseus die Hände nach seiner menschlichen Speise aus. Diese Speise stand neben dem Ambrosia und dem roten Nektar, mit denen Kalypso, die ihm gegenübersaß und ihn betrachtete, sich ernährte. Sieben Jahre lang, jeden Abend, hatte Kalypso gehofft, daß er davon kosten würde. Dann nämlich wäre er unsterblich geworden, alterslos, ein an die Grenzen der Welt verschlagener Halbgott. Doch Odysseus tat dies nie. Dann vereinigten sie ihre Körper auf dem Bett in der Tiefe der Grotte, und in diesen Nächten fühlte Kalypso, daß sie wirklich lebte, weil sie Odysseus zwischen ihrem großen Körper und den Betttüchern verbarg. Sonst war sie von Melancholie und Ungewißheit gequält, als wäre ihr Leben nicht wirklicher als die Namen von Kriegern, die Odysseus ständig wiederholte und die für sie inzwischen zu vertrauten, ungreifbaren Gestalten geworden waren.
Als Kalypso ihm sagte, daß sie ihn ziehen lassen würde, argwöhnte Odysseus, daß diese Worte wieder eine List verbergen könnten, um ihn zu umgarnen, "ein anderes Übel". Sie waren Feinde, die sich mit ihren Waffen bis zum Äußersten bekämpften, schweigend und ohne Zeugen. Von Zärtlichkeit verletzt, nannte Kalypso Odysseus dann alitrós, "Schelm", und "streichelte ihn mit der Hand". Keine andere Frau hätte es gewagt, in Verbindung mit ihm ein so intimes und zugleich richtiges Wort zu gebrauchen.



1 Καλυψώ (Kalypsō); vgl. gr. καλύπτειν (kalýptein) "verhüllen, bedecken"; cf. Apokalypse (gr. ἀποκάλυψις, "Offenbarung, Aufdeckung, Enthüllung", vom griechischen ἀπό (apo, "weg") und κάλυψις "Verhüllung, Verbergen" bzw. καλύπτω (kaluptō, "bedecken")

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