20100605

[quoth] unica zürn: das haus der krankheiten

In Das Haus der Krankheiten analogisiert Unica Zürn ihren eigenen Körper, der sich zur Zeit der Niederschrift des Manuskripts im April und Mai 1958 unter dem Einfluss der Gelbsucht befindet, mit einem Haus, in dem ihre Organe den Status von Zimmern einnehmen, die betreten werden können. Der Versuch, die Krankheit zu bezwingen, wird gleichgesetzt mit der Suche nach einem Ausgang aus dem labyrinthisch anmutenden Haus. Erich Brinkmann spricht im Nachwort von der "Erfahrung eines Störungserlebnisses an der Schwelle zum Psychotischen." Bezugnehmend auf die Leibnizsche Monadologie, nennt er das Haus "fensterlose Monade, [ohne] Blick nach außen, Theaterbühne des inneren Erlebens."
Die Texte in
Das Haus der Krankheiten wurden mit schwarzer Tinte verfasst, denen einige Tusche- und Bleistiftzeichnungen anbei gegeben sind. Eine kleine Auswahl derselbigen findet sich im Anschluss an dies Häuflein einleitender Worte.
Die Notizen beginnen an einem Mittwoch und schildern eine von vielen Untersuchungen durch Doktor Mortimer. Mit trauriger Bewunderung erklärt er ihr, dass ein Meisterschütze die Herzen in ihren Augen mitten durch die Brust getroffen habe und diese nun entfernt werden müssten, um einer Fäulnis entgegenzuwirken. Mit müder Indifferenz hört sie seine Worte, ist in Gedanken vielmehr bei der Auswahl eines geeigneten Schlafplatzes.

"Ich rate Ihnen, heute Nacht im Kabinett der Sonnengeflechte zu schlafen" sagte Dr. Mortimer. "Dies ist die goldene Mitte des Leibes, wo alles ruht, außer im Zustand der Liebe und des Bösen und für Zustände dieser Art sind Sie jetzt zu schwach, so daß Sie also ohne Störung in diesem Kabinett sein werden. Soll ich Sie begleiten?" Ich schüttelte den Kopf, hielt meinen Arm hin und ließ mir von ihm eine Schlafinjektion machen. An der Tür sah mich Dr. Mortimer starr und feierlich an, er reckte sich hoch und glich einen Augenblick lang einem Menschen, der mir sehr teuer gewesen war und um dessen Vergessen ich mich bemühte. "Er, [der Meisterschütze], hat von nun an Ihre Augen in seiner Macht. Die Richtung, in die Sie nun immerzu sehen müssen, das ist der Ort, wo er sich selbst befindet." Ich spürte, wie meine Schwäche stärker wurde und hielt mich an Dr. Mortimer fest. "Es ist lebensgefährlich", sagte er diesmal ohne Pathos, sondern in so heiterem Ton, als wollte er eigentlich sagen: Der Frühling scheint kommen zu wollen. "Seit ich in diesem Haus wohne, ist alles lebensgefährlich geworden", lächelte ich. "Gute Nacht, Doktor, passen Sie gut auf die Feinde auf."

Die Menschen teilen sich von je her in zwei Gruppen: die Opfer und die Mörder. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, sich im Laufe des Lebens von der einen Gruppe zu lösen, um der anderen beizutreten. Mir ist es bisher nicht gelungen, zum Mörder zu werden. Ewig das Opfer zu sein, ist mein Schicksal. Natürlich bin ich wie jedes echte Opfer oder wie jeder echte Mörder dabei auch zum Hypochonder geworden. Messer erregen meine Abscheu. Wie oft habe ich mich schon geschnitten! Aber einem Holzschnitzer habe ich noch nie zugesehen. Vielleicht besänftigte sein Anblick meine Abscheu vor dem Messer. Ich ziehe den Löffel vor. Aber man macht sich lächerlich, wenn man das Fleisch mit dem Löffel zerteilen will. Vom Messer im Herzen las ich zum ersten Mal als Kind. Magua erstach Unkas, den letzten der Mohikaner. Heimlich wurde ich Unkas und spielte sein Schicksal an Sommernachmittagen im Garten. Als ich älter wurde, gab ich einem Mann, den ich liebte, den Namen Unkas. Sofort stieß er mir das Messer ins Herz und ich zog mich gekränkt zurück. Mein Herz, von dem ich nichts halte, weil es sich meistens wie ein Idiot gebärdet, ist seitdem noch oft durchlöchert worden. So, als machte ihm das gar nichts aus, will es immer von Neuem die Zielscheibe sein. Das ist verächtlich. Ich beachte mein Herz nicht mehr. Ich habe mich vielmehr meinem Sonnengeflecht zugewendet. Wie ich schon sagte, scheint es mir der edelste Teil meines Körpers zu sein. Mein Herz hat sich selbst beschmutzt. Ich möchte nichts mehr von ihm hören.

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