20140311

[quoth] byung-chul han: abwesen

Mit dem Abwesen habe ich gemeint, etwas, was sich zurücknimmt. Zurückweicht. Abtritt. Und nach dem Abtreten und nach dem Zurückweichen entsteht nicht ein Vakuum, sondern mehr Raum, mehr Zeit, mehr Welt. Weil diese Präsenz des Ich den Raum verdrängt hat und mit sich besetzt hat. Und wenn dieses Ich, diese Substanz, zurückweicht in eine Abwesenheit, dann entsteht eine Weite, eine Weite der Welt, eine Weite des Raumes. Ich wollte diese Weite aufzeichnen. Wo das Ich nicht atmet, beginnt die Welt aufzuatmen. Und wo das Ich sich vordrängt, verschwinden diese Atemräume des Seins.[1]
Die fernöstliche Kultur ist, ein wenig überspitzt formuliert, eine Kultur ohne Blick. Der Blick ist der Andere. In Japan gilt es als unhöflich, dem Anderen direkt ins Auge zu schauen. Auf die Blicklosigkeit geht es zurück, daß das Gedränge von Menschen, das charakteristisch wäre für fernöstliche Großstädte, nicht bedrängend ist. Der fehlende Blick überzieht die ganz überfüllten Großstädte mit einer besonderen Leere und Abwesenheit.
Der Gruß ist aufrichtend. Seine Haltung ist das Gegenüber-Stehen. Das Stehen, die Ständigkeit oder die Selbst-Ständigkeit, in der ich dem Anderen begegne, ihm widerstehe oder auch ihn anerkenne, sind alle Grundzüge des Wesens. Die japanische Verbeugung stellt eine Gegenbewegung dar. Sie beugt die Person in eine Abwesenheit. Sie ist kein dialogisches Geschehen, was sich schon darin zeigt, daß die Grüßenden einander nicht ins Auge schauen. Die Verbeugung bringt vor allem den Blick zum Verschwinden. Erst der gegenseitige Blick eröffnet den dialogischen Raum. Für den Moment der Verbeugung schaut man nirgendwo hin. Dieses Nirgendwo markiert das Nichts, die Leere, die In-Differenz, in die der Blick versenkt wird.[2]

Wer grüßt wen? Niemand grüßt. Niemand grüßt niemanden. Die tiefe Verbeugung ebnet die Person zu einem Niemand ein. [...] Die japanische Verbeugung hat keine Person zum Gegenüber. Aufgrund des fehlenden Gegenübers findet auch keine Unterwerfung statt. Es ist die westliche Mythologie der 'Person', die die tiefe Verbeugung als unterwürfig erscheinen lässt. [...]
Die Sich-Verbeugenden entfernen sich nicht, wie beim dialogischen Gruß, in die "Ferne ihres eigenen Wesens und seiner Bewahrung". Vielmehr entfernen sie sich in die Abwesenheit. Indem man sich tief verbeugt oder verneigt, verneint man sich. Sich verbeugend tritt man zurück in die Abwesenheit. Statt füreinander anzuwesen, statt einander zum Wesen zu verhelfen, gilt es, abzuwesen. Die Räumlichkeit der tiefen Verbeugung ist ebenso wenig die Nähe. Sie hält die Beteiligten gerade auf Distanz. Sie nähern sich nicht. Die Aufhebung des Selbst führt auch nicht zur Verschmelzung mit dem Anderen. Die tiefe Verbeugung wahrt ein Zwischen. Dieses Zwischen ist aber weder Inter noch Dia. Es ist weder interpersonal noch dialogisch besetzt. Dieses Zwischen ist vielmehr leer. Schon der abwesende Blick entdialogisiert, entleert den Raum der tiefen Verbeugung zu einem leeren Zwischen.[3]

Der tiefen Verbeugung liegt die Entscheidung zugrunde, das heikle Gegenüber der Person, statt es dialogisch zu entschärfen, in eine In-Differenz einzuebnen. Sie vermittelt nicht zwischen Personen, versöhnt niemanden mit niemandem. Sie entleert und entinnerlicht die Beteiligten vielmehr zu Abwesenden.[4]


1 Auszug aus einem Gespräch mit Byung-Chul Han im Rahmen der SWR2 Buchkritik, Sendung vom 04/02/08. Transkript.
2 Byung-Chul Han, Abwesen: Zur Kultur und Philosophie des Fernen Osten, Merve, 2007, S. 148.
3 Ebd., S. 149f.
4 Ebd., S. 153.
Erwähnenswert sei an dieser Stelle noch die Etymologie des Wortes "grüßen", dem sich Han zu Beginn des Kapitels "Gruß und Verbeugung — Freundlichkeit", aus dem die oben stehenden Paragraphen zitiert wurden, in größerem Umfang widmet. Demnach hat die althochdeutsche Vorstufe "gruozen" ursprünglich eher unfreundliche Bedeutungen wie "zum Reden bringen", "herausfordern", "beunruhigen" oder "angreifen". Ferner enthält es eine lautmalerische Komponente: "Es klingt sehr rau und kehlig. [...] Der Grüßende muss ursprünglich einen dunklen, kehligen Laut, der einem Drohlaut ähnelte, ausgestoßen haben. [...] Gruozen ist der Urlaut der Angst, des Schreckens und der Abwehr. Hegels Dialektik von Herr und Knecht führt am Ende zu einer gegenseitigen Anerkennung. Sie beschreibt jenes zwischenmenschliche Drama, das vom Kampf über die Unterwerfung des Anderen zu einer gegenseitigen Anerkennung führt, ja sich entspannt zum freundlichen Gruß. Erst eine gegenseitige Anerkennung macht aus dem kehligen gruozen einen Gruß, der zwar noch kein Wohllaut ist, der aber den Anderen zumindest wissen lässt, daß er mich nicht beunruhigt, daß ich sein Gegenüber anerkenne, ihn in seinem Gegenüber gelten lassen werde."

[mnemosyne] die pranke der natur (und wir menschen)

Das Beben, das Japans Nordinsel um vier Meter nach Osten versetzte, war mit seinem Glockenschlag noch in den Schweizer Bergen zu messen. Der ganze Erdball empfing diesen Puls, dies sind, nach Johannes Kepler, die Akkorde des Planeten Erde. Einige der Töne haben eine Folge von tausend Jahren.
Ohne, daß wir uns gegenseitig Geschichten erzählen, haben wir keine Wirklichkeit. Das heißt, wir kriegen eine gewisse Wärme, eine Temperatur in die Ereignisse hinein, die wir brauchen, sozusagen die 37 Grad Celsius der wirklichen Verhältnisse. Und diese Geselligkeit bedeutet, daß zwischen uns Menschen eine Erzählung entsteht, etwas Wirkliches entsteht. Also der Sitz der Seele ist zwischen zwei Menschen und nicht in einem Menschen. Und dieses ist auch jetzt das Verhältnis zur Natur, man muß nach der Katastrophe erzählen. Als der Bombenangriff auf Halberstadt vorüber war, hab' ich noch 'ne Stunde später gedacht, "Und morgen ist Montag und ich kann's in der Klasse erzähl'n." Und ich war sehr enttäuscht, daß die Schule ausfiel. Das heißt, dieses Erzählen, daß man die Wirklichkeit, die Haut, in der wir leben, wiederherstellt, die ist sozusagen ein Bedürfnis, das stärker sein kann als alles objektive Geschehen. Ich glaube, daß alle Erlebnisse, die Menschen haben, untereinander ein Netz bilden, ein stärker vernetztes als das Online-Netz.[1] Und daß man gewissermaßen, wenn man falsch erinnert, also was verdrängt, oder übertrieben erinnert, oder etwas nicht erzählt, sondern immer nur bezeichnet, "Das war der achte April 1945.", und annimmt, es weiß jeder, was das ist. Wenn man das macht, dann kommt dieses ganze Netz, dieses Kleid, in dem wir leben, durcheinander. Wir zerstören dann ein Haus, in dem wir leben: das Haus der Erinnerung.[2]


1 The thought he utters triggered a memory, concerning what Lain says at the end of Layer 02, how "no matter where you go, everyone's connected," epitomizing the hypothesis that humans are subconsciously linked by the Earth's magnetic field, which resonates on a Theta frequency of 7,83 Hz, as measured by Winfried Otto Schumann. The initial discovery of what would later be referred to as Schumann resonance can actually be attributed to Nikola Tesla, who theorized on its potential usage for wireless telegraphy, that is power transmission and transmission of intelligible messages to any point on the globe (see: The Transmission of Electrical Energy Without Wires As A Means of Furthering Peace).
2 Der oben stehende Paragraph stellt einen transkribierten Auszug aus einem Gespräch mit Alexander Kluge dar, zu finden auf Die Pranke der Natur [und wir Menschen] (CD 1, Track 17), einem primär Fukushima-bezogenen Füllhorn an Tondokumenten (eingesprochen von Alexandra Kluge, Edgar Reitz, Hannelore Hoger, Helge Schneider, Helmut Stange, Jochen Striebeck, et al.) und experimentellen Klangpassagen von Alva Noto, Gustav und Ikue Mori. Bei dem Epigraph am Anfang des Posts handelt es sich um die einleitenden Worte aus Kluges Text "Kosmische Musik" (CD 1, Track 4).