Mit dem Abwesen habe ich gemeint, etwas, was sich zurücknimmt. Zurückweicht. Abtritt. Und nach dem Abtreten und nach dem Zurückweichen entsteht nicht ein Vakuum, sondern mehr Raum, mehr Zeit, mehr Welt. Weil diese Präsenz des Ich den Raum verdrängt hat und mit sich besetzt hat. Und wenn dieses Ich, diese Substanz, zurückweicht in eine Abwesenheit, dann entsteht eine Weite, eine Weite der Welt, eine Weite des Raumes. Ich wollte diese Weite aufzeichnen. Wo das Ich nicht atmet, beginnt die Welt aufzuatmen. Und wo das Ich sich vordrängt, verschwinden diese Atemräume des Seins.[1]
Die fernöstliche Kultur ist, ein wenig überspitzt formuliert, eine Kultur ohne Blick. Der Blick ist der Andere. In Japan gilt es als unhöflich, dem Anderen direkt ins Auge zu schauen. Auf die Blicklosigkeit geht es zurück, daß das Gedränge von Menschen, das charakteristisch wäre für fernöstliche Großstädte, nicht bedrängend ist. Der fehlende Blick überzieht die ganz überfüllten Großstädte mit einer besonderen Leere und Abwesenheit.
Der Gruß ist aufrichtend. Seine Haltung ist das Gegenüber-Stehen. Das Stehen, die Ständigkeit oder die Selbst-Ständigkeit, in der ich dem Anderen begegne, ihm widerstehe oder auch ihn anerkenne, sind alle Grundzüge des Wesens. Die japanische Verbeugung stellt eine Gegenbewegung dar. Sie beugt die Person in eine Abwesenheit. Sie ist kein dialogisches Geschehen, was sich schon darin zeigt, daß die Grüßenden einander nicht ins Auge schauen. Die Verbeugung bringt vor allem den Blick zum Verschwinden. Erst der gegenseitige Blick eröffnet den dialogischen Raum. Für den Moment der Verbeugung schaut man nirgendwo hin. Dieses Nirgendwo markiert das Nichts, die Leere, die In-Differenz, in die der Blick versenkt wird.[2]
Der Gruß ist aufrichtend. Seine Haltung ist das Gegenüber-Stehen. Das Stehen, die Ständigkeit oder die Selbst-Ständigkeit, in der ich dem Anderen begegne, ihm widerstehe oder auch ihn anerkenne, sind alle Grundzüge des Wesens. Die japanische Verbeugung stellt eine Gegenbewegung dar. Sie beugt die Person in eine Abwesenheit. Sie ist kein dialogisches Geschehen, was sich schon darin zeigt, daß die Grüßenden einander nicht ins Auge schauen. Die Verbeugung bringt vor allem den Blick zum Verschwinden. Erst der gegenseitige Blick eröffnet den dialogischen Raum. Für den Moment der Verbeugung schaut man nirgendwo hin. Dieses Nirgendwo markiert das Nichts, die Leere, die In-Differenz, in die der Blick versenkt wird.[2]
Wer grüßt wen? Niemand grüßt. Niemand grüßt niemanden. Die tiefe Verbeugung ebnet die Person zu einem Niemand ein. [...] Die japanische Verbeugung hat keine Person zum Gegenüber. Aufgrund des fehlenden Gegenübers findet auch keine Unterwerfung statt. Es ist die westliche Mythologie der 'Person', die die tiefe Verbeugung als unterwürfig erscheinen lässt. [...]
Die Sich-Verbeugenden entfernen sich nicht, wie beim dialogischen Gruß, in die "Ferne ihres eigenen Wesens und seiner Bewahrung". Vielmehr entfernen sie sich in die Abwesenheit. Indem man sich tief verbeugt oder verneigt, verneint man sich. Sich verbeugend tritt man zurück in die Abwesenheit. Statt füreinander anzuwesen, statt einander zum Wesen zu verhelfen, gilt es, abzuwesen. Die Räumlichkeit der tiefen Verbeugung ist ebenso wenig die Nähe. Sie hält die Beteiligten gerade auf Distanz. Sie nähern sich nicht. Die Aufhebung des Selbst führt auch nicht zur Verschmelzung mit dem Anderen. Die tiefe Verbeugung wahrt ein Zwischen. Dieses Zwischen ist aber weder Inter noch Dia. Es ist weder interpersonal noch dialogisch besetzt. Dieses Zwischen ist vielmehr leer. Schon der abwesende Blick entdialogisiert, entleert den Raum der tiefen Verbeugung zu einem leeren Zwischen.[3]
Die Sich-Verbeugenden entfernen sich nicht, wie beim dialogischen Gruß, in die "Ferne ihres eigenen Wesens und seiner Bewahrung". Vielmehr entfernen sie sich in die Abwesenheit. Indem man sich tief verbeugt oder verneigt, verneint man sich. Sich verbeugend tritt man zurück in die Abwesenheit. Statt füreinander anzuwesen, statt einander zum Wesen zu verhelfen, gilt es, abzuwesen. Die Räumlichkeit der tiefen Verbeugung ist ebenso wenig die Nähe. Sie hält die Beteiligten gerade auf Distanz. Sie nähern sich nicht. Die Aufhebung des Selbst führt auch nicht zur Verschmelzung mit dem Anderen. Die tiefe Verbeugung wahrt ein Zwischen. Dieses Zwischen ist aber weder Inter noch Dia. Es ist weder interpersonal noch dialogisch besetzt. Dieses Zwischen ist vielmehr leer. Schon der abwesende Blick entdialogisiert, entleert den Raum der tiefen Verbeugung zu einem leeren Zwischen.[3]
Der tiefen Verbeugung liegt die Entscheidung zugrunde, das heikle Gegenüber der Person, statt es dialogisch zu entschärfen, in eine In-Differenz einzuebnen. Sie vermittelt nicht zwischen Personen, versöhnt niemanden mit niemandem. Sie entleert und entinnerlicht die Beteiligten vielmehr zu Abwesenden.[4]
1 Auszug aus einem Gespräch mit Byung-Chul Han im Rahmen der SWR2 Buchkritik, Sendung vom 04/02/08. Transkript.↩
2 Byung-Chul Han, Abwesen: Zur Kultur und Philosophie des Fernen Osten, Merve, 2007, S. 148.↩
3 Ebd., S. 149f.↩
4 Ebd., S. 153.↩
Erwähnenswert sei an dieser Stelle noch die Etymologie des Wortes "grüßen", dem sich Han zu Beginn des Kapitels "Gruß und Verbeugung — Freundlichkeit", aus dem die oben stehenden Paragraphen zitiert wurden, in größerem Umfang widmet. Demnach hat die althochdeutsche Vorstufe "gruozen" ursprünglich eher unfreundliche Bedeutungen wie "zum Reden bringen", "herausfordern", "beunruhigen" oder "angreifen". Ferner enthält es eine lautmalerische Komponente: "Es klingt sehr rau und kehlig. [...] Der Grüßende muss ursprünglich einen dunklen, kehligen Laut, der einem Drohlaut ähnelte, ausgestoßen haben. [...] Gruozen ist der Urlaut der Angst, des Schreckens und der Abwehr. Hegels Dialektik von Herr und Knecht führt am Ende zu einer gegenseitigen Anerkennung. Sie beschreibt jenes zwischenmenschliche Drama, das vom Kampf über die Unterwerfung des Anderen zu einer gegenseitigen Anerkennung führt, ja sich entspannt zum freundlichen Gruß. Erst eine gegenseitige Anerkennung macht aus dem kehligen gruozen einen Gruß, der zwar noch kein Wohllaut ist, der aber den Anderen zumindest wissen lässt, daß er mich nicht beunruhigt, daß ich sein Gegenüber anerkenne, ihn in seinem Gegenüber gelten lassen werde."
Erwähnenswert sei an dieser Stelle noch die Etymologie des Wortes "grüßen", dem sich Han zu Beginn des Kapitels "Gruß und Verbeugung — Freundlichkeit", aus dem die oben stehenden Paragraphen zitiert wurden, in größerem Umfang widmet. Demnach hat die althochdeutsche Vorstufe "gruozen" ursprünglich eher unfreundliche Bedeutungen wie "zum Reden bringen", "herausfordern", "beunruhigen" oder "angreifen". Ferner enthält es eine lautmalerische Komponente: "Es klingt sehr rau und kehlig. [...] Der Grüßende muss ursprünglich einen dunklen, kehligen Laut, der einem Drohlaut ähnelte, ausgestoßen haben. [...] Gruozen ist der Urlaut der Angst, des Schreckens und der Abwehr. Hegels Dialektik von Herr und Knecht führt am Ende zu einer gegenseitigen Anerkennung. Sie beschreibt jenes zwischenmenschliche Drama, das vom Kampf über die Unterwerfung des Anderen zu einer gegenseitigen Anerkennung führt, ja sich entspannt zum freundlichen Gruß. Erst eine gegenseitige Anerkennung macht aus dem kehligen gruozen einen Gruß, der zwar noch kein Wohllaut ist, der aber den Anderen zumindest wissen lässt, daß er mich nicht beunruhigt, daß ich sein Gegenüber anerkenne, ihn in seinem Gegenüber gelten lassen werde."